Im anhaltenden Nahost-Krieg fehlt nach Worten des Lateinischen Patriarchen von Jerusalem, Kardinal Pierbattista Pizzaballa, eine Ausstiegs-Strategie. Nur ein Ende der Kämpfe schaffe den dringend benötigten Raum zum Nachdenken, sagt er im Interview. Den Westen fordert der Geistliche auf, bestehende Spaltungen nicht zusätzlich zu vertiefen.
Frage: Herr Kardinal, wie beschreiben Sie die gegenwärtige Lage in Nahost?
Pizzaballa: Sie ist dramatisch und eskaliert weiter, wobei Eskalation nicht das richtige Wort ist: Der Krieg hat sich ausgeweitet auf den Libanon und den Iran. Allerdings war das wenig überraschend, zumindest die Entwicklungen im Libanon waren vorhersehbar. Was fehlt, ist eine Ausstiegsstrategie, ohne die ich keine Änderung der Lage sehe. Die Armee kann nicht beschließen, wann der Krieg endet. Das muss auf politischer Ebene geschehen. Dort sehen wir bislang eine Gleichsetzung von Frieden und Sieg. Das ist eine Illusion. Und dabei haben wir von den Tausenden Opfern und der totalen Zerstörung in Gaza und jetzt im Libanon nicht gesprochen.
Frage: Wenn es Morgen ein Friedensabkommen gäbe: Was müsste passieren, um die Gesellschaften von all dem Hass und dem Gift des Krieges zu reinigen?
Pizzaballa: Es braucht zunächst einmal neue Gesichter. Mit denselben Personen, die an dem gegenwärtigen Geschehen beteiligt sind, kann es keine neuen Perspektiven geben, kann keine neue Seite aufschlagen werden. Wir müssen das Vertrauen wieder aufbauen, und das geht nicht ohne neue Gesichter. Wir brauchen eine neue politische und religiöse Führung, die in der Lage ist, eine neue Sprache zu sprechen. Die Gewalt, die wir derzeit sehen, ist nur die letzte Folge. Es beginnt mit der Sprache, die wir in Politik, in Gotteshäusern und Schulen hören. Zudem müssen die Wunden heilen. Das alles ist keine einfache Aufgabe, sondern ein langer Prozess, der erst beginnen kann, wenn der Krieg endet.
Frage: Wie könnte eine neue Perspektive aussehen?
Pizzaballa: Es ist zu früh, das zu sagen – ebenso, wer diese neuen Gesichter sein könnten. Zunächst brauchen wir ein Ende des Krieges, um durchatmen zu können und Raum zum Nachdenken zu haben. Klar ist: Dieser Krieg ist ein Wendepunkt. Es ist eine Frage der Zeit, bis wir neue Gesichter in den Führungsrollen sehen – wobei das nicht automatisch heißt, dass es bessere Gesichter sind.
Frage: Die Welt blickt auf den sich intensivierenden Krieg im Libvanon. Was hören Sie von den Christen dort?
Pizzaballa: Die Lage ist chaotisch. Es herrschen Angst und Wut, die Menschen sind verloren. Viele, auch Christen, fliehen aus dem Süden. Auch viele christliche Einrichtungen nehmen die Vertriebenen auf, was eine gute Sache ist.
Frage: Plant das Patriarchat, den libanesischen Gemeinden zu helfen?
Pizzaballa: Bis jetzt gibt es keinen Aufruf, und es gibt vermutlich auch wenig, das wir tun können. Wir sind auf der falschen Seite der Front.
Frage: Aus Gaza hört man zuletzt weniger. Wie geht es Ihrer Gemeinde dort?
Pizzaballa: Die Lage ist im Großen und Ganzen unverändert. Vom humanitären Standpunkt aus gibt es eine leichte Verbesserung. Es ist uns etwa in den letzten Tagen gelungen, 20 Tonnen Obst und Gemüse hineinzubringen. Der Unterricht für die Kinder wurde wieder aufgenommen. Aber die Lage bleibt sehr volatil.
Frage: In vielen Ländern Europas hat die Polarisierung in der öffentlichen Meinung in Bezug auf Nahost zugenommen, darunter auch in christlichen Kreisen. Was raten Sie den Menschen im Westen?
Pizzaballa: Zunächst einmal: Auch Christen sind Menschen und haben verschiedene Meinungen. Das ist prinzipiell gut. Es zeigt aber, dass Nahost das Herz der Welt ist. Was hier passiert, hat enorme Auswirkungen in der Welt. Der Nahe Osten hat eine sehr komplexe Realität. Die Spaltungen waren vorher da. Sie sind nur jetzt besonders sichtbar. Wir brauchen Menschen, die uns helfen – und nicht unsere Spaltungen zusätzlich vertiefen. Wir brauchen jemanden, der uns hilft, den Horizont zu weiten und die richtigen Worte zu finden. Stimmen von außen könnten dazu beitragen.
Frage: Die Kirchen in Jerusalem haben sich zu Beginn des Krieges mehrfach zu Wort gemeldet und auch Kritik für manche Aussage geerntet. Seither scheinen die kirchlichen Stimmen quasi verstummt.
Pizzaballa: Ich bin nicht sicher, ob ich diese Einschätzung teile. Vielleicht reden wir weniger, aber wir reden. Es braucht nicht jede Woche eine Stellungnahme gleichen Inhalts. Manchmal ist es wichtiger, zu schweigen und bei unseren Gläubigen zu sein.
Frage: Abgesehen vom Krieg, was sind die größten Herausforderungen für die Christen der Region?
Pizzaballa: Die Christen sind nicht ein drittes Volk im Heiligen Land, sondern stehen vor den gleichen Herausforderungen wie alle anderen. Wenn man spezifische Herausforderungen nennen sollte, dann wohl die wirtschaftliche Lage, die große Versuchung der Abwanderung und die Schwierigkeit, eine christliche Sprache zu finden in diesem Krieg.
Interview von Andrea Krogmann (KNA)