Am 1. Septemberwochenende versammelten sich 70 Ritter und Damen der Ordensprovinz Norddeutschland zu ihren alljährlichen Besinnungstagen im Kloster Nütschau, dem nördlichsten Benediktinerkloster Deutschlands, zum Thema „Gott geht – Warum? Törichte Gedanken zu Freiheit, Hoffnung und Erlösung“.

Präsident Cfr. Georg Graf von Kerssenbrock freute sich über die rege Teilnahme und begrüßte insbesondere den „Steuermann“ für das Wochenende, den Hildesheimer Bischof Cfr. Dr. Heiner Wilmer SCJ, der an diesem Tag sein 5. Bischofsjubiläum feiern durfte.

Confratres Bischof Wilmer und Weihbischo Theising

Weihbischof Wilfried Theising, der Prior der Provinz Norddeutschland, freute sich ebenfalls über Cfr. Bischof Dr. Wilmers Zusage, diese Tage mitzugestalten und führte ein: Das Thema klinge interessant, ja provokativ: Dass Menschen gehen, die Kirche verlassen, erlebten wir in dieser Zeit häufig und schmerzhaft. Aber dass der „Gott mit uns“, der „bei [uns] alle Tage bis ans Ende der Welt“ sein will, gehe? Was würde uns an diesem Wochenende erwarten?

Gott geht – Warum?

Schon mit seiner Einführung ins Thema weckte Cfr. Bischof Dr. Heiner Wilmer Vorfreude und ließ erahnen, dass das Wochenende mit tiefen Gedanken reich gefüllt sein würde.

In dem Satz „Gott geht“ könne „gehen“ provozierend verstanden werden im Sinne von „er ist weg“. Im Norddeutschen werde „gehen“ aber auch verwandt als „passt schon“ – er ist eine echte Option. Und schließlich könne der Satz auch gelesen werden als „Gott geht mit – Schulter an Schulter, an meiner Seite“.

Und nur die Frage nach dem „Warum“ könne eine Erneuerung einleiten, uns zu den Grundlagen unseres Denkens und Tuns führen und uns die Dinge anpacken lassen. Die Fragen „Warum bist du hier? Warum glaubst du an Gott? Warum willst du eigentlich dein Leben so und nicht anders gestalten?“ begleiteten uns zum gemeinsamen Abendgebet und anschließenden gemütlichen Beisammensein.

Schmerz der Freiheit – Überraschung der Freiheit – die Freiheit wählen

Der Samstagvormittag stand ganz im Zeichen der Freiheit. Cfr. Bischof Dr. Heiner Wilmer griff unterschiedliche schmerzliche Erfahrungen auf: die Erlebnisse seines Großvaters und Vaters in beiden Weltkriegen und die daraus resultierende negative Haltung gegenüber den Franzosen, die erschüttert wurde, als der Sohn französische Freunde mit nach Hause brachte: „Was haben sie uns nur vorgemacht?!“ – der Schmerz der Freiheit, wenn man entdeckt, dass Menschen und Systeme einem zeitlebens etwas vorgegaukelt haben.
Der Schmerz über den Verlust liebster Menschen und der Schmerz bei der Frage, warum Gott den Tod unschuldiger Kinder und unmenschliche Grausamkeiten zulassen kann. Der Schmerz Marias, wenn der eigene Sohn fragt: „Wer sind meine Mutter und meine Brüder?“ und der Schmerz Jesu, der verlassen und verspottet am Kreuz hängt und hört: „Er hat auf Gott vertraut: der soll ihn jetzt retten, wenn er an ihm gefallen hat.“ 

Auch heute fühlen wir uns manchmal angesichts der Kirchenkrise, des Glaubensverlusts in der Gesellschaft und persönlicher Schicksalsschläge von Gott verlassen. Sind wir hier so frei, diesen Schmerz vor Gott zu bringen, buchstäblich auf ihn einzutrommeln und ihn zu schütteln: „Wie kannst du nur?“

Die französische Soziologin Danièle Hervieu-Leger beschreibt, dass es in Zukunft zwei Arten von Christen geben wird: zum einen die Pilger, die mit Gott an ihrer Seite aufbrechen, und zum anderen die Konvertiten, die ein besonderes Erlebnis, eine innere Erkenntnis als eine Art Schock erfahren haben und – wie der französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal – in einer mystischen Erfahrung erleben, dass Gott eine Erfahrung wie Feuer ist.

Diese Anspielung Pascals auf die Erzählung vom brennenden Dornbusch weist uns auf Moses hin, der die Freiheit wählt. Trotz seiner Pflichten für die Schafherde macht er einen Umweg, um den brennenden Dornbusch zu untersuchen. Cfr. Bischof Dr. Heiner Wilmer erklärt, das Geheimnis des Moses bestehe darin, dass er auch im Alltag neugierig geblieben sei. Die Lust auf Neues sei der Anfang jeder Konversion. Freiheit bedeute, über sich hinauszuwachsen, um der größeren Verheißung zu trauen.

In Kleingruppen tauschten wir uns dann aus zu den Fragen: Was ist mein ganz persönlicher Schmerz? Wie halte ich mich wach und neugierig? Was ist mein Umweg?

Hoffnung in Gott macht Sinn – Hoffnung als Haltung – Hoffnung als Handeln

Im Mittelpunkt des Nachmittags stand die Hoffnung:
Auch wenn man momentan das Gefühl haben könne, die Welt drohe zu kippen und ein großer „Weltstaubsauger sauge alle Gewissheiten hinweg“ (Heribert Prantl in SZ vom 15. Mai 2022), haben wir – so Cfr. Bischof Dr. Heiner Wilmer – die Option, mutig zu sein und uns für die Hoffnung zu entscheiden: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn macht, egal wie es ausgeht“ (Vaclav Havel).
Die Geschichte von Noah als größtes und ältestes Hoffnungsbild der jüdisch-christlichen Tradition zeigt, dass es Hoffnung gibt, auch wenn es scheint, als hätte alles keinen Sinn mehr. Diese uralte Geschichte – „Hoffnung in Gott macht Sinn“ – zu erzählen, ist der Urauftrag der Kirche.

Dazu gehöre eine bestimmte Haltung: schon Jesus ermuntert in seiner Abschiedsrede die Jünger: „Euer Herz lasse sich nicht verwirren“ und gibt ihnen mit, dass sie fest daran glauben dürfen, in Gottes Hand zu sein. Die Frage an uns heute, die wir ebenfalls mit verwirrenden Zeiten und Verhältnissen umgehen müssen, laute daher auch: Wie entscheide ich mich in meinem Herzen? Wage ich zu denken, dass Gott mich in einen neuen Kontext, in ein neues Land ruft? Lasse ich zu, dass ich innerlich den Kopf wende, mich von Liebgewordenem verabschiede und mich auf Neues einlasse, das sich zuerst fremd anfühlt? Traue ich Gott zu, dass er in meinem Leben etwas bewirkt wie im Leben von Abraham, Mose und Noah? Darf ich glauben, dass auch mir die Verheißung gilt? Und dass es in diesem Jahr viele Menschen am Rande meines Weges gab, die mir wie ein Engel zum Segen geworden sind, indem sie einfach da waren, als ich es brauchte? Indem sie mich angenommen haben, wie ich bin, ohne dass ich mich verstellen musste? Oder indem sie mich vor mir selbst gewarnt haben?
Und darf ich im Umkehrschluss auch glauben, dass ich selbst in diesem Jahr für einen anderen zum Engel Gottes, zum Segen, zum Hoffnungszeichen geworden bin?

Entscheidend, so Cfr. Bischof Dr. Heiner Wilmer, ist dabei nicht das Ergebnis unseres Tuns, unsere Leistung, sondern die Frage, ob wir uns nach Gott ausrichten und danach suchen: „Was willst du, Gott, von mir?“  Dafür brauchen wir Erneuerung durch Stille, Einsamkeit und Schweigen – Einsamkeit aber verstanden nicht als Alleinsein, sondern als das Wissen, dass Gott da ist und wie groß er in meinem Leben ist. Die Mystikerin Madeleine Delbrel beschreibt, wie sie auch im Alltag diese Erfahrung macht, indem sie beim Warten darauf, dass das Wasser zu kochen beginnt, sich für Minuten zurückzieht und Gott dafür dankt, dass er an ihrer Seite ist.

Die Fragen „Wo habe ich Raum und Zeit für Einsamkeit und Stille?“ und „Wo bin ich in diesem Jahr für jemanden zum Engel/Hoffnungszeichen geworden?“ gaben Anlass zu nachdenklichem Austausch und führten hin zum Thema des Abends:

Erlösung heißt Versöhnung – Erlösung heißt Altes lassen – Erlösung heißt offen sein für Gott

Um ganz bei mir, in meinem Innersten, in meiner Identität zu sein, muss ich versöhnt sein; nur wer Altes lassen und den Blick zu neuen Ufern heben kann, erlebt Erlösung. Dennoch bleibt dem Menschen die Angst vor dem Sterben und dem Tod. Cfr. Bischof Dr. Heiner Wilmer berichtet, wie andere mit dieser Angst umgegangen sind: Dorothee Sölle zum Beispiel schreibt: „Ich muss sterben, aber das ist auch alles, was ich für den Tod tun werde. Lachen werd ich gegen ihn; Geschichten erzählen, wie man ihn überlistet hat und wie die Frauen ihn aus dem Land trieben.“ Der, der den Tod besiegt hat, verheiße, dass wir mit ihm leben werden.
Etty Hillesum schreibt in ihrem Tagebucheintrag vom 12.7.1942: „Es sind schlimme Zeiten,mein Gott. […] Ich will dir helfen, Gott, dass du mich nicht verlässt, aber ich kann mich von vornherein für nichts verbürgen. Nur dies eine wird mir immer deutlicher: dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das einzige, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott. Und vielleicht können wir mithelfen, dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen […].“
Das erschütternde Ende der Oper „Dialogues des Carmélites“ und die Hinrichtung der sog. Märtyrerinnen von Compiègne wegen ihrer Weigerung, ihre Gelübde zu brechen, ließ Cfr. Bischof Dr. Heiner Wilmer als Zeugnis der Schwestern so stehen und erinnerte daran, dass unser Glaube auf dem Zeugnis von Menschen beruht, die für ihren Glauben einstehen mussten. Er hoffe und bete, dass niemand mehr so weit gehen müsse wie die Karmelitinnen, trotzdem sei es auch heute nicht einfach, für den Glauben einzustehen. Mit den Denkanstößen „Welche Erfahrungen habe ich damit gemacht und wann fällt es mir vielleicht schwer, über den Glauben Zeugnis zu geben?“ erinnerte er daran, dass wir als Ritter und Damen vom Heiligen Grab zu Jerusalem in der Tradition Vieler stehen, die Zeugnis geben, und endete mit dem gemeinsamen Gebet:

Herr, wir sind berufen, Zeugen Deiner Botschaft und Deiner Erlösung zu sein. Wir haben keine Bestimmung, erfolgreich zu sein. Wir haben keine Berufung, geehrt zu werden und uns durchzusetzen.

Wir sollen Zeugen Deines Todes und Deiner Auferstehung sein; Zeugen des Lebens, das Du gebracht hast; Zeugen der Liebe, Zeugen der Freude.

Wir sind gerufen, aus der Kraft des Kreuzes Christi und aus der Kraft seiner Auferstehung, durch unser Wort und unser christliches Lebensbeispiel, den Menschen Hoffnung und Zuversicht zu geben.

Herr, gib uns Mut zu diesem Zeugnis. Gib uns offene Augen, offene Ohren und ein offenes Herz für die Not der Menschen, besonders für die Christen im Heiligen Land, die unserer persönlichen Sorge anvertraut sind.

Lass uns mit der Kirche und mit den Menschen dort solidarisch sein und ihnen materiell und geistlich helfen. Lass uns denken und handeln nach dem Wort und Beispiel Christi. Und lass uns unsere Berufung verwirklichen mit den Schwestern und Brüdern, die zu der Gemeinschaft des Ritterordens gehören.

Lass uns miteinander auf dem Weg sein. Lass uns leben in und mit Deiner Kirche. Lass uns selbst Kirche sein, wie Du sie gewollt hast. Sei gepriesen in Ewigkeit!

Amen.

Text und Bildrechte: Csr. Andrea Weinhold-Klotzbach

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