Impuls am Ostersonntag

Wenn wir in diesen Tagen die Leidensgeschichte Jesu Christi hören oder gehört haben, dann begegnet uns darin ein komplexes Gefüge an verschiedensten Personen. In unterschiedlicher Weise spielen sie eine Rolle in der Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu. Alle haben sie in größerem oder geringerem Umfang Anteil – sei es positiv oder negativ – am Verlauf des Geschehens, so wie es uns die Evangelisten berichten. Doch wer ist letztlich schuld am Tode Jesu? Judas Iskariot, der ihn verraten hat? Die Pharisäer, die ihn aus dem Weg haben wollten, weil sie ihre Machtposition gefährdet sahen? Pontius Pilatus, der ihn zum Tode verurteilt hat? – Allein die drei beispielhaft genannten Personen oder Personengruppen deuten an, dass die Frage nach dem oder den Schuldigen nicht so einfach zu beantworten ist.

Hätte es anders kommen können?

Noch komplexer wird es, wenn man eine weitere Frage hinzufügt: Was wäre gewesen, wenn eine oder mehrere der beteiligten Personen anders gehandelt hätten? Hätte der Tod eines Unschuldigen dann verhindert werden können? Natürlich ist diese Frage höchst spekulativ und es würden sich weitere Fragen anschließen: Was wäre dann mit Ostern? Musste es nicht so geschehen? War es nicht der Heilsplan und Heilswille Gottes, dass in seinem Sohn Jesus Christus ein Unschuldiger einsteht für die Schuld anderer, für unsere Schuld?

Was wäre also gewesen, wenn eine oder mehrere der beteiligten Personen anders agiert hätten?

Trotz aller Spekulativität und trotz der Tatsache, dass wir im wahrsten Sinne des Wortes „heil-froh“ sein können, dass Christus für uns am Kreuz gestorben und auferstanden ist, lohnt es sich, sich mit dieser Frage einmal ein wenig genauer auseinanderzusetzen. Sie lädt uns nämlich ein, unser Handeln oder Unterlassen zu reflektieren. Was wäre also gewesen, wenn eine oder mehrere der beteiligten Personen anders agiert hätten? So gefragt, kommen über die oben genannten hinaus schnell weitere Personen ins Blickfeld. Nämlich solche, denen man mutmaßlich justiziabel keine Schuld am Tod eines Unschuldigen zuweisen kann und die doch auf die ein oder andere Weise Teil des Geschehens sind.

„Ich finde keine Schuld an ihm“ (Joh 18,38), sagt Pilatus und überliefert Jesus dennoch dem Tod. Die Befriedung einer spannungsgeladenen und aufgeheizten Situation scheint ihm ein vermeintlich höheres Gut als die Achtung von Recht und Gesetz zu sein. Es ist nicht auszuschließen, dass dabei auch die eigene Karriere als Handlungsmotiv eine Rolle spielte. Also „nahm er Wasser und wusch sich die Hände vor dem Volk und sprach: Ich bin unschuldig am Blut dieses Menschen. Das ist eure Sache!“ (Mt 27,24). Ja, Pilatus hätte den Tod Jesu verhindern können.

Was wäre also gewesen, wenn damals jemand mutiger gewesen wäre?

Was ist mit den Aposteln? Im Moment der Verhaftung fliehen sie in alle Himmelsrichtungen. Was wäre gewesen, wenn sie sich zwischen Jesus und die von Judas Iskariot angeführten Soldaten gestellt hätten? Kajaphas hatte ja gesagt: „Ihr bedenkt nicht, dass es besser für euch ist, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht.“ (Joh 11,50). Wer weiß, ob die Pharisäer ihren mörderischen Plan nicht hätten fallen lassen, wenn sie gemerkt hätten, dass sich Jesu Jünger schützend vor ihn stellen und es mit der Auslöschung eines einzigen Menschen nicht getan ist. Einem solchen Gemetzel hätten die Römer womöglich nicht tatenlos zugesehen.

Oder ein Jünger, wie Josef von Arimathäa, ein „vornehmes Mitglied des Hohen Rates“ (Mk 15,43), ein heimlicher Jünger Jesu, der offensichtlich Zugang zum römischen Statthalter Pilatus hatte (vgl. Joh 19,38)? Wenn er ein wenig mutiger gewesen wäre und offen zu seiner Jüngerschaft gestanden hätte, hätte er seinen Einfluss im Hohen Rat oder gegenüber Pilatus geltend machen und den Tod Jesu verhindern können? Ebenso der Pharisäer Nikodemus, auch er war ein heimlicher Anhänger Jesu und tauchte erst nach dessen Tod am Grab auf (vgl. Joh 19,39).

Jeder von uns muss eingestehen „Gutes unterlassen zu haben“

Es steht uns sicherlich nicht zu, über diese Personen zu urteilen, ob sie richtig oder falsch gehandelt haben. Die Überlegungen über andere Handlungsoptionen ihrerseits, die den Verlauf von Jesu Schicksal hätten beeinflussen können, zielen vielmehr auf eine selbstkritische Reflexion unseres eigenen Tuns und Unterlassens ab. Wir alle sind im Leben tagtäglich mit Situationen konfrontiert, in denen wir keine Verantwortlichkeit oder Zuständigkeit im eigentlichen Sinne haben, aber dennoch durch unser Handeln oder Nichthandeln Einfluss auf den Fortgang der Dinge nehmen oder nehmen könnten. Wenn beispielsweise einem Menschen Unrecht getan wird und ich mich daran zwar nicht beteilige, aber auch nicht einschreite, um das Übel zu verhindern. Oder wenn ein Mensch sich anschickt, Recht zu brechen oder moralisch falsch zu handeln und ich nicht versuche, positiv auf ihn einzuwirken und ihn davon abzuhalten. Es sind letztlich all die Situationen, bei denen ich im Schuldbekenntnis eingestehe, dass ich „Gutes unterlassen“ habe.

Wenn wir uns für unsere Nächsten einsetzen, dann verbinden wir uns mit Jesus und seinem Kreuzweg

Der Blick auf die unterschiedlichen Protagonisten der Passionsgeschichte kann für uns eine Ermutigung sein, künftig auch dort stärker unsere Stimme zu erheben und einzuschreiten, wo es von uns zwar von Rechts wegen nicht erwartet werden kann, wo wir es aber dennoch in der Hand haben, dass Unrecht unterbunden und unterlassen wird. Es gibt immer wieder Situationen, in denen uns in unseren Nächsten der geschundene und misshandelte Christus begegnet. Wenn wir uns für diese Menschen einsetzen, ohne auf unser eigenes Ansehen zu achten, dann verbinden wir uns auf geheimnisvolle Weise mit Jesus Christus und seinem Kreuzweg, den er für uns Menschen auf sich genommen hat. Dann wirken wir mit an seinem Heilsplan, der alle Menschen in ein Leben in Fülle führen möchte. Und selbst wenn wir dabei auch immer wieder straucheln und versagen, bleibt uns die sichere Hoffnung, dass Gott auch dort die Dinge zum Guten führen kann, wo uns dies nicht gelungen ist. So wie durch Gottes Wirken der Kreuzweg Jesu Christi kein Weg des Scheiterns, sondern ein Weg des österlichen Triumphes geworden ist.

Das Karfreitagsopfer ist ein Zeichen der Solidarität

Gerade am diesjährigen Osterfest, an dem wir mit großer Sorge auf die zunehmenden Spannungen im Heiligen Land schauen, sei Ihnen ein besonders herzliches Vergelt’s Gott für Ihr Karfreitagsopfer gesagt. Ihre Solidarität mit den Menschen in der Heimat Jesu ist genau so ein ungeschuldeter Beitrag, der das Schicksal von Menschen hin zum positiven wenden kann.

Cfr. Weihbischof Rupert Graf zu Stolberg, Prior der Ordensprovinz Bayern

OESSH Deutsche Statthalterei

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