Die kunstvolle Frontplatte des monumentalen Altars lehnte unbeachtet in einem Seitengang. Die Marmorverzierungen weisen auf den Papst als Auftraggeber hin

Die Grabeskirche in Jerusalem, der Ort, an dem Jesus der Legende nach ins Grab gelegt wurde, ist ein Brennpunkt des Christentums und der Weltgeschichte und zieht jeden Tag tausende Besucherinnen und Besucher an. Vor etwa zehn Jahren zeigten sich immer größer werdende Risse in der Bausubstanz: Die Kirche war einsturzgefährdet, weshalb sich die traditionell zerstrittenen sechs christlichen Konfessionen, die das Gebäude gemeinsam verwalten, auf weitreichende Renovierungsmaßnahmen einigten. Einzelne Gebäudeteile mussten abgetragen werden, um sie dann Stein für Stein wie ein Puzzle wieder aufzubauen.

Um dabei den Überblick nicht zu verlieren, wurden alle in der Kirche befindlichen Steinobjekte nummeriert und untersucht. Das geschah auch mit einer schweren, mit Graffitis von Besuchern versehene Steinplatte, die über viele Jahrzehnte in einem Bereich lehnte, der eine von der griechisch-orthodoxen Kirche als Gefängnis Christi verehrte Kapelle enthält.

Anheben der Platte

Als die Platte mit einem Kran hochgehoben wurde, wartete auf der Rückseite eine Überraschung: Sie war mit aufwendigen Verzierungen bedeckt. Der Archäologe Amit Re’em von der Israelischen Altertumsbehörde rief seinen langjährigen Kollegen Ilya Berkovich von der Österreichischen Akademie der Wissenschaft in Wien an, mit dem er bereits in der Vergangenheit über Funde in Jerusalem publiziert hatte.

Berkovich flog nach Jerusalem, um sich vor Ort selbst ein Bild zu machen, und begann zu recherchieren. Nun publizierten er und Re’em das Ergebnis ihrer Untersuchung im traditionsreichen Fachjournal Eretz-Israel, das in hebräischer und englischer Sprache erscheint und von der Gesellschaft zur Erforschung Israels gemeinsam mit der Hebräischen Universität von Jerusalem herausgegeben wird. Sie berichten darin von einer Sensation: Es handelt sich offenbar um die Front des verloren geglaubten Hauptaltars aus dem Jahr 1149, eines der größten bekannten Altäre des Mittelalters, mit Ornamenten, wie sie fast ausschließlich aus Italien bekannt sind.

(c) Artikel von derStandard.de

Berichte über Hochaltar

1149 ist ein besonderes Datum. Am 15. Juli jährte sich die Eroberung Jerusalems durch die christlichen Kreuzfahrer im Rahmen des Ersten Kreuzzugs und die Ausrufung des Königreichs Jerusalem zum 50. Mal. Zu diesem Jubiläum wurde ein neuer Hochaltar eingeweiht. Dieser prächtige Marmoraltar wird in vielen Pilgerberichten bis ins 18. Jahrhundert erwähnt. Doch 1808 kam es zu einem Großbrand im romanischen Teil der Grabeskirche. Danach verliert sich die Spur des Altars.

Diesen haben Berkovich und Re’em nun offenbar wiederentdeckt, wie sie anhand zahlreicher Indizien belegen. Die Grabeskirche wird eigentlich seit Jahrhunderten intensiv erforscht, in der Regel nachts, wenn die Kirche für Besucher gesperrt ist. Es musste also schon aus früherer Zeit Beschreibungen der Platte geben. Berkovich fand tatsächlich eine Beschreibung des Franziskanermönchs und Archäologen Virgilio Corbo, der sie in den 1960er-Jahren untersuchte. Der Mönch war damals der Leiter des katholischen archäologischen Teams, das in der Kirche arbeitete.

„Corbo hat 1981 eine ausführliche Baugeschichte der Grabeskirche publiziert“, erzählt Berkovich. Dort wird die Platte erwähnt. „Er sah die Platte aber nur kurz und konnte sie nicht ausführlich vermessen und dokumentieren.“ Dabei habe er einen verständlichen Fehler gemacht. „Er dachte, sie sei auf der Plattform vor dem Altar gelegen.“ Dagegen spreche ein kleiner Steg an der Basis der Platte, der eindeutig von einer aufrechten Verwendung zeuge. Und es gibt noch einen weiteren Grund, warum Berkovich ausschließt, dass die Platte zur Plattform gehörte.

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Handwerk aus Rom

Ihre eigentliche Besonderheit liegt in der Verzierung. Berkovich und Re’em identifizieren sie als Beispiel einer Schule, die „Kosmatesk“ genannt wird. Das ist eine Marmor-Einlegetechnik aus feinen Elementen, wie sie in Rom üblich war.

Genau darum handelt es sich laut der Studie bei den nun sichtbar gewordenen Ornamenten. Doch diese Technik in Jerusalem zu finden ist eine Überraschung: Sie wurde ausschließlich von Meisterhandwerkern im päpstlichen Rom praktiziert, die ihre Technik von Generation zu Generation weitergaben. „Bis zu diesem Zeitpunkt wussten wir nur von einem Beispiel von Kosmatesk außerhalb von Italien, und das ist die Westminster Abbey in London“, sagt Berkovich. Dorthin hatte der Papst einst einen Kosmatesk-Meister ausgesandt.

In der Kosmatesk-Kunst in Rom gebe es keine Beispiele verzierter Altarplattformen, betont Berkovich. Auch deshalb müsse sich um die Front des Altars handeln.

Pilger erzählen

Die neu entdeckte Platte passt jedenfalls zu den Pilgerberichten. Niccolò da Poggibonsi, der aus der Toskana kam und die Grabeskirche im Jahr 1347 besuchte, beschreibt ihn als riesig. Eine Umrechnung der von ihm in der toskanischen Einheit „palmo“ angegebenen Maße übertrifft die 3,5 Meter geringfügig. Andere Erzählungen nennen mit 2,8 Metern etwas geringere Maße. Poggibonsi berichtet außerdem über einen Riss, der in der Mitte hindurchging. Die Bruchlinie, an der die Platte heute endet, könnte genau dieser Riss sein. Andere Pilger wiederum beschreiben schon im 17. und 18. Jahrhundert das Herausbrechen der Marmorstücke.

Wann der Altar aufgestellt wurde, ist bekannt, betont Berkovich: „Wir haben ein genaues Datum.“ Am 15. Juli 1149 gab es eine Jubliäumsfeier in der Grabeskirche. Zu diesem Anlass wurde eine Inschrift angefertigt. „Und dann, etwa 20 Jahre später, war dort ein deutscher Pilger, Johannes von Würzburg“, berichtet der Forscher. „Er hat diese Inschrift in seinem Bericht zitiert. Weiters schreibt er, dass am selben Tag vier neue Altäre geweiht wurden, darunter auch der neue Hauptaltar.“ Die Platte müsse zu diesem Altar gehören, sagt Berkovich: „Der Altar ist das einzige Element der Ausstattung der Kirche, das so eine Platte benötigt.“

Um festzustellen, ob die Platte zu dieser Datierung passt, zogen die Forscher außerdem Details der Ornamente heran, die sie überzeugten, dass sie es mit Kunst aus der Kreuzfahrerzeit zu tun hatten. Was die europäische Herkunft angeht, so weisen sie darauf hin, dass neben Rom auch Sizilien infrage kommt, wo dieselben Stilelemente verwendet wurden. Ein genanntes Beispiel ist die in Palermo gelegene Capella Palatina aus dem 12. Jahrhundert.

Doch zwischen dem normannischen Königreich und Jerusalem gab es zu dieser Zeit Streit, nachdem die Mutter von König Roger II. aus Jerusalem verstoßen wurde. Er versagte daraufhin dem Königreich Jerusalem jede Unterstützung, was sizilianische Handwerker als Gestalter des Altars unwahrscheinlich mache.

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Filigrane Kunst

Die Größe des Altars und die Gestaltung durch Handwerker aus Rom sind für Berkovich und Re’em aufgrund seiner Bedeutung plausibel: „Der Papst würdigt damit die heiligste Kirche der Christenheit“, sagt Berkovich. Dass es sich tatsächlich um Kosmatesk handelt, lasse sich an verschiedenen Merkmalen ablesen. Die Technik zeichnet sich durch besonders kleinteilige Marmordekorationen aus. „In Rom wurde Marmor meist aus antiken Gebäude ausgekratzt“, sagt Berkovich.

„Die Kosmatesk-Künstler hatten ein praktisches Problem. Sie hatten eine begrenzte Menge Marmor in allen möglichen Farben.“ Daraus erkläre sich die Erscheinungsform des Kosmateks: „Man baute große geometrische Figuren wie zum Beispiel Kreise oder Sterne, aber aus sehr, sehr kleinen Teilen.“ Das unterscheidet sie von Marmor-Einlegearbeiten in anderen Teilen der Welt. „Im Mittleren Osten und in Byzanz konnte man Marmor viel leichter bekommen“, erklärt Berkovich. Diese bestünden aus viel größeren Stücken.

Auch der auf den Nahen Osten spezialisierte Archäologe Friedrich Schipper von der Universität Wien und der Hochschule Heiligenkreuz zeigt sich von der Entdeckung beeindruckt, die er einen „Aha-Moment mit großer Zeitverzögerung“ nennt: „Der neue Beitrag des israelisch-russisch-österreichischen Wissenschaftlers Ilya Berkovich mit seinem israelischen Kollegen Amit Re’em über einen architektonischen Fund und Befund in der Grabeskirche, der Anastasis, in Jerusalem zeigt einmal mehr, das selbst bei einem solch prominenten, monumentalen Zentrum des Glaubens aller christlichen Kirchen und Konfessionen, das wie kaum eine andere religiöse Stätte über Jahrhunderte lang Scharen von Pilgern wie auch Forschern anzieht, immer wieder Überraschungen zu Tage kommen.“

Das gebe Anlass, die bereits bekannte Geschichte teils neu zu sehen und zu bewerten. „Ihre aktuelle Leistung besteht daher in der Navigation durch die Wirren der situationsbedingt komplexen Forschungsgeschichte und der dadurch komplizierten und fragmentierten Publikationslage“, sagt der Archäologe. Damit sei ein neuer Blick auf die Gründerzeit des kreuzfahrerzeitlichen Monumentalkirchenbaus möglich. „Wir erhalten nun ein klareres plausibles Bild davon, wie der erste kreuzfahrerzeitliche Altar ausgesehen haben könnte und wie er somit kultur- und kunstgeschichtlich einzuordnen ist“, freut sich Schipper.

Ob der Auftrag tatsächlich vom Papst stammt, ist noch nicht geklärt. Falls er einen solchen Auftrag gab, müsste es darüber Aufzeichnungen geben. Bislang kennt man solche nicht. Berkovich hofft, sie in den päpstlichen Archiven zu finden. Vielleicht gibt es dort dann auch einen Hinweis auf die Identität des Künstlers.

Text: Reinhard Kleindl, 15.7.2024

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