Text: Cfr. Propst Dr. Bernhard Stecker, Komturei Bischof Willehad Bremen
Manchmal wird erst durch Verlust deutlich, was wirklich wichtig ist. Solange alles so ist, wie wir es kennen, nehmen wir es schnell für selbstverständlich. Das ist sehr menschlich. Aber wenn es dann verloren geht – seien es konkrete Menschen, durch Tod oder Weggang, oder seien es immaterielle Güter wie Gesundheit oder der Arbeitsplatz -, dann wird mir erst so richtig bewusst, wie groß das Geschenk ist, das wir Leben nennen. Und wie wenig selbstverständlich.
So ähnlich muss man sich die Bedeutung des Exils, die Vertreibung der Juden aus Jerusalem und ganz Israel in die babylonische Gefangenschaft vorstellen. Es war gewissermaßen die Geburtsstunde des Judentums. Erst in der Zerstörung und Vertreibung wurde dem Volk wirklich so ganz bewusst, was ihnen wichtig, heilig und zentral war. Erst von da an war der Glaube an den einen Gott das, was das Volk zuinnerst ausmachte und unterschied.
Erst im Exil wurden die Bücher der Bibel geschrieben, geordnet und in eine Reihenfolge gebracht. Erst mit dem Exil verschwanden die Götterbilder ganz aus den Häusern und wurde der Ein-Gott-Glaube zur alleinigen Richtschnur. Erst im Exil wurde der Gottesdienst zuhause, auch der Sabbat so zentral und kennzeichnend für das Judentum. Erst nach dem Exil wurden die anderen Heiligtümer, die verschiedenen Tempel, die es noch gab, aufgegeben und nur noch der Tempel in Jerusalem zählte. Er wurde der zentrale Sammelpunkt.
So wurde erst mit dem Exil Jerusalem zum eigentlichen Sehnsuchtsort der Juden. Auf Jerusalem richtete sich der Blick. Das war der Ort des Friedens, der Verehrung Gottes, der Gerechtigkeit. Denn mit der Vertreibung der Juden aus Jerusalem begann eine Zeit der Zerstreuung für die Juden, die im Grunde bis heute anhält.
Zurückzukehren nach Jerusalem, davon zu singen und zu sprechen, ist mehr als der Wunsch nach geographischer Ortsverschiebung. Da geht es nicht um Heimatgefühle, sondern um eine zentrale Sehnsucht, die wir alle kennen, eben um die Sehnsucht nach Frieden, Gerechtigkeit, nach der Gegenwart Gottes und seiner Verehrung.
Die prophetische Tradition Israels, Baruch und Jesaja zum Beispiel, aber auch Johannes der Täufer, griff diese Sehnsucht auf und brachte sie ins Wort. Zugleich aber kritisierten sie die politische Umdeutung, die schon zu Zeiten der Könige, mehr aber noch heute verführerisch ist. Als ginge es um die Herstellung einer weltlichen Herrschaft! Eine säkulare Umdeutung kann die Verheißung zerstören, in ihr Gegenteil verkehren und Unfrieden und Ungerechtigkeit hervorbringen. Die Propheten sahen das sehr klar und überaus kritisch. Für sie war und bleibt Jerusalem vor allem ein geistlicher Ort, an dem sichtbar wird, was doch an jedem Ort gilt: „Gott führt Israel heim in Freude, im Licht seiner Herrlichkeit; Erbarmen und Gerechtigkeit kommen von ihm.“ (Bar 5,9)
Darum ging Johannes in die Wüste und an den Jordan und predigte dort, nicht im Tempel. Und bei Jesus hören wir vom himmlischen Jerusalem, zu dem hin wir unterwegs sind. Dort werden wir die Größe und das Licht Gottes ganz und unverhüllt schauen.
Diese Sehnsucht brennt in uns. Und wir können ihre Erfüllung erleben, wenn wir schon in dieser Zeit Erbarmen und Gerechtigkeit erfahren.