Impuls zum 13. Sonntag im Jahreskreis
„Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht wert“ (Mt 10,38). Diesen herausfordernden Satz aus dem Evangelium bringe ich seit meiner Zeit als Klinikseelsorger in einem großen Münchner Universitätsklinikum vor allem mit den Kranken in Verbindung. Täglich bin ich hier Menschen begegnet, deren Leben durch Krankheit und Leiden sehr stark beeinträchtigt wurde.
Die eigene Krankheit als ein Kreuz zu betrachten, das man bewusst oder sogar bereitwillig auf sich nimmt, das ist nun wirklich eine große Herausforderung. Manche kommen zu dieser Haltung, wenn sie den Blick auf den kreuztragenden Herrn richten, der selbst verwundet wurde.
Das hat auch der heilige Bischof Martin von Tours erfahren. Eine Legende erzählt, dass der Teufel dem Heiligen einmal begegnete, um ihn in die Irre zu führen. Er erschien ihm als König in majestätischer Pracht und sagte: „Martin, ich danke dir für Deine Treue. Du sollst erfahren, dass auch ich dir treu bin. Du sollst jetzt immer meine Nähe spüren! Du kannst dich an mir festhalten!“ Da fragte Martin zurück: „Wer bist Du eigentlich?“ „Ich bin Jesus, der Christus!“ antwortete der Teufel. „Wo sind denn Deine Wunden?“ fragte Martin weiter. „Ich komme aus der Herrlichkeit des Himmels und da gibt es keine Wunden mehr!“ gab der Teufel zurück. Darauf entgegnete ihm Martin: „Den Christus, der keine Wunden hat, den mag ich nicht sehen. An dem Christus, der nicht die Zeichen des Kreuzes trägt, kann ich mich nicht festhalten!“
Mir gefällt diese Legende: Sie erzählt davon, dass wir keinen weltabgehobenen oder weltfremden Gott haben, sondern einen, der unser Leben teilt. Mehr noch: Dieser Gott weiß auch um Schmerz, Leid, Klage, Trauer, Sinnlosigkeit und die Wunden der Menschen. All das Schwere und Belastende unseres Lebens teilt er mit uns in Jesus Christus.
Menschen in Krankheit und Krise stehen oft vor einer grundlegenden Erschütterung ihres Lebens. Verluste und Brüche, schwerwiegende Diagnosen und Enttäuschungen können alles bisher Selbstverständliche in Frage stellen und den Menschen existentiell herausfordern.
Wenn ich Menschen begegne, die schwer erkrankt sind, steht nicht unbedingt der christliche Glaube im Mittelpunkt unserer Unterhaltung. Aber sehr häufig kommen wir ins Gespräch über die eigenen Kraftquellen, die es trotz oder gerade wegen der augenblicklichen Situation zu entdecken gilt.
Die Wunde der Krankheit zu verleugnen hilft nicht weiter. Vielmehr gilt es sich der eigenen Verletzlichkeit und Verunsicherung zu stellen und herauszufinden, welche Möglichkeiten ich sehe und über welche Ressourcen ich angesichts meiner augenblicklichen Situation verfüge.
Genau jetzt stellt sich die Frage nach den eigenen spirituellen Wurzeln. Was gibt mir Halt? Was gibt meinem Leben Sinn? Was heißt es für mich überhaupt zu leben? Wo spüre ich in mir noch Vitalität und Lebendigkeit trotz der Krankheit? Woraus kann ich noch Kraft, Freude und Hoffnung schöpfen?
Auf der Suche nach den eigenen Kraftquellen entdecken dann viele Menschen, dass der Glaube an einen Gott, der selbst durch das Leid und den Tod hindurchgegangen ist, Halt verleihen kann.
Unser Gott versteckt seine Wunden nicht. Er verspricht uns kein Leben, das frei wäre von Schwächen, Fehlern und Wunden. Mit solch einem makellosen Leben blendet in der Tat nur der Versucher. Der Gott, der Wunden trägt, zeigt uns vielmehr, wie das Leben gelingen kann inmitten aller Einschränkungen und Unvollkommenheiten.
Es ist wichtig, sich immer wieder auf die Suche nach dem zu machen, was dem eigenen Leben inneren Halt verleiht. Und dabei kann den Wunden des eigenen Lebens eine besondere Bedeutung zukommen.
Heutzutage ist in diesem Zusammenhang viel von Resilienz die Rede. Mit Resilienz meinen Wissenschaftler die psychische Widerstandskraft und die Fähigkeit schwierige Lebenssituationen zu überstehen. Als resilient bezeichnet man zum Beispiel auch ein Gummi, das nach extremer Anspannung wieder in seine ursprüngliche Form zurückschnellt. Eine schwere Erkrankung stellt eine solche Situation der extremen Anspannung dar. Genauso wie das Zerbrechen einer Beziehung oder der Verlust von Sicherheiten, wie dem Arbeitsplatz oder gesicherten Einkünften. Dann braucht es nicht nur Stabilität, sondern auch Flexibilität, um auf belastende Situationen gut reagieren zu können.
Der Glaube an einen Gott, der selbst das Kreuz getragen hat, fördert beides:
Zum einen lässt er in uns das Vertrauen wachsen, dass wir nicht verloren gehen können. Auch in der größten Bedrohung, im Angesicht von Krankheit und Ruin, ja selbst im Sterben und Tod können wir nicht tiefer fallen als in die Hände Gottes.
Zum anderen fördert der Glaube aber auch die Anpassungsfähigkeit an die jeweilige Situation. Denn wer der Tragfähigkeit des Bodens vertraut, auf dem er steht, der kann auch mal Dinge loslassen, die lieb und teuer geworden sind. Wenn wir uns von Gott getragen fühlen, können wir gelassen und flexibel mit der Situation umgehen. Bei Oskar Wilde heißt es: „Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.“ Der Glaubende hat eben immer auch die eschatologische Perspektive im Blick und ist überzeugt, „dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll“ (Röm 8,18).
Das Leben verläuft nicht immer so, wie wir uns das vorstellen. Es ist geprägt von Erfolgen und Misserfolgen, von Gesundheit und Krankheit. Mit dem heiligen Martin kann ich aber sagen, dass die Wunden des auferstandenen Christus mein augenblickliches Leid nicht verleugnen, sondern es würdigen und ihm zugleich die Perspektive verleihen, dass es überstanden werden kann. Ja, mehr noch: Dass daraus etwas Fruchtbares und Heilsames erwachsen kann:
Vierzig Tage lang hat Jesus nach seiner Auferstehung seine Wunden gezeigt. Der Apostel Thomas, den wir am 3. Juli feiern, musste sie erst sehen und berühren, bevor er glauben konnte. Jesus zeigt, dass er nicht nur die Wunden des Alltags mit uns teilt, sondern auch die größte Verwundung überhaupt: Unsere Sterblichkeit und den unausweichlichen Tod. Im Blick auf sein und unser Kreuz sind wir eingeladen, Kraft, Orientierung und Trost zu finden.
Cfr. Daniel Lerch ist Prior der Komturei Patrona Bavariae München.