Was siehst Du, wenn die Hüllen fallen?
Am heutigen Passionssonntag werden die Kreuze violett verhüllt – bis zur sukzessiven Enthüllung am Karfreitag. Dieser liturgische Usus ergibt in mehrfacher Hinsicht Sinn: Die Christenmenschen haben sich so sehr daran gewöhnt, einen hingerichteten und halbnackten Leichnam anzusehen. So kunstvoll und oft aus kostbarem Material gefertigt die grausame, von der römischen Justiz praktizierte Exekution auch sein mag, sie ist für einen unbefangenen Blick absolut nicht schön. Eigentlich müsste uns beim Anblick am Karfreitag das Entsetzen packen! Der göttlichen Befreiung vom Joch der Unterdrücker, der wirklichen salus mundi, wie es der Nazarener proklamierte und initiierte, wird der Garaus gemacht – routinemäßig und effizient.
Der Brauch der Christgläubigen, das Holz des wahren Kreuzes zu zeigen, dürfte Jerusalemer Ursprungs sein und hat nun seinen festen Ort in der eigenwillig archaischen Karfreitagsliturgie. Die pädagogische Inszenierung ist indes nicht stimmig, denn beim Fallen der Hüllen soll das Holz des Kreuzes gesehen werden, in quo salus mundi pependit, an dem das Heil der Welt gehangen hat – Perfekt. Nicht der Leichnam soll gesehen werden. In dieser Hinsicht ist unser Ordenskreuz treffsicherer: Ein Verweis auf die fünf Wundmale, nicht diese selbst werden versichtbart. Apropos Sichtbarkeit – auch das Heilige Grab in Jerusalem wartet mit einer Leere auf, die Benedikt XVI. zutreffend als „Glaubenspur“ des Auferstandenen bezeichnete.
Wie diese Leere am Holz des Kreuzes und in der Grabädikula zum Gedächtnis des Nazareners füllen? Nicht durch Schnitz- oder Gusswerk, vielmehr käme es uns als Hüterinnen und Hüter jener Glaubensspur zu, die Leere mit unserer stets neuen Proklamation und stets tätigen Initiierung der göttlichen Befreiung zu füllen. Klassisch nennt man dies imitatio Christi oder Nachfolge Jesu: Das Heil für die Welt, die salus mundi, als Verlebendigung durch Dich, als „glaubwürdiges Zeugnis in Tat und Wahrheit“! Der lebendige Jesus Christus, darf keine Leerformel sein, die Gültigkeit der göttlichen Befreiung wird Wirklichkeit durch Dich – oder es bleibt die Leerstelle. Diese Intuition erfasste bereits der Apostel, der den Nazarener nie gesehen hatte: „Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Das mögen wir sehen, wenn das Kreuz enthüllt ist, das mögen wir realisieren, wann immer wir ein Kreuz sehen.
Prof. Dr. Oliver Wintzek (Komturei Hl. Bernhard von Clairvaux, Heidelberg-Mannheim)